Politik

Bauern und Verbraucher fordern eine Wende in der Agrarpolitik

50.000 demonstrieren in Berlin


(Quelle: Mario Graß)
(Quelle: Mario Graß)
GDN - Etwa 50.000 Menschen haben am vergangenen Samstag in Berlin gegen das Handelsabkommen TTIP und die Industrialisierung der Landwirtschaft mit ihren Auswüchsen, wie sie sich beispielsweise in der Nutzung von Gentechnik oder der oftmals kreaturverachtenden Massentierhaltung zeigen, demonstriert.
Vor einigen Tagen ist die alarmierende Belastung von deutschem Putenfleisch mit antibiotikaresistenten Keimen bekannt geworden. Bei einer bundesweiten Stichprobe wurden, laut Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), auf 88 Prozent der untersuchten Fleischstücke die gefährlichen Keime nachgewiesen. Das Ergebnis zeigt überdeutlich die Folgen des Antibiotika-Missbrauchs in der Massentierhaltung, wobei die Leiterin für Agrarpolitik beim BUND, Reinhild Benning, die Studienergebnisse zwar "schockierend, aber nicht überraschend" nannte, denn letztlich seien diese nichts anderes als die logische und vorhersehbare Folge der Massentierhaltung.
Ende letzten Jahres erhielt in Sachsen-Anhalt einer der größten Schweinehalter in Europa, nachdem er, weil er seine Tiere jahrelang gequält hatte, bereits bereitwillig Bußgelder in mindestens sechsstelliger Höhe gezahlt hatte, endlich Berufsverbot.
Das sind nur zwei der mittlerweile kaum mehr überschaubaren Skandale, die in der Vergangenheit das Vertrauen der Verbraucher erschüttert haben. Doch trotz allem schreitet die industrielle Massentierhaltung scheinbar unaufhaltsam voran. Riesige Tierfabriken, in denen jährlich hunderttausende Ferkel und Kälber, als handele es sich um wertlose Fließbandware, produziert werden, entstehen. Offenbar ist diese Entwicklung politisch gewollt.
Die Fehlentwicklungen in der Nahrungsmittelproduktion sind nicht Zufall und auch nicht das Resultat von einzelnen Missetätern, sondern sie sind systematisch herbeigeführt worden. Am vergangenen Samstag haben deshalb mehr als 100 Organisationen, darunter Bauern-, Verbraucher-, Tier- und Umweltschutzorganisationen, unter dem Motto “Wir haben es satt“, dazu aufgerufen, den Unmut über diese Verhältnisse lautstark zum Ausdruck zu bringen. Etwa 50.000 engagierte Bürgerinnen und Bürger folgten diesem Aufruf und protestierten gegen die zunehmende Industrialisierung der Landwirtschaft und die damit einhergehenden Folgen und Auswüchse wie Tierfabriken, Gentechnik und das geplante Handelsabkommen TTIP.
Quelle: Mario Graß
Viele der Demonstrationsteilnehmer hatten eine lange und beschwerliche Anreise auf sich genommen und sind mit ihren Traktoren aus dem gesamten Bundesgebiet angereist. Doch einer übertraf hinsichtlich Engagement, Willensstärke und Leidensfähigkeit wohl alle anderen. Der Bauer Otto Schöneweis lief innerhalb von zehn Tagen vom hessischen Usseln bis nach Berlin.
Zu Fuß nach Berlin: Otto Schöneweis
Quelle: Mario Graß
Die 460 Kilometer lange Strecke bewältigte er in klobigen Holzschuhen und mit einer 140kg schweren, mobilen Kälberhütte, auch bekannt als Kälberiglu, die er als Schlafgelegenheit hinter sich her zog. Doch Zeit zum Schlafen fand Otto Schöneweis nur wenig. “Es ist zeitlich ziemlich eng geworden und ohne meine Freunde, die zwischendurch auch mal gezogen haben, hätte ich es auch nicht geschafft“, gesteht er. “Bei den Steigungen im Harz musste ich wirklich kämpfen.“ Doch trotz streckenweise 14%iger Steigung, Wind, Regen und Kälte hat er die Strecke tatsächlich bewältigt und pünktlich am Samstagvormittag den Potsdamer Platz erreicht, wo er von den sich nach und nach einfindenden Demonstranten herzlich begrüßt wurde.
Quelle: Mario Graß
Kurz darauf traf dann auch der Traktorkonvoi, bestehend aus mehr als 90 Fahrzeugen, ein und setzte sich an die Spitze des Demonstrationszuges. Vom Potsdamer Platz zog die mittlerweile riesige Menschenmenge durch die von jubelnden Unterstützern gesäumten Straßen der Hauptstadt, vorbei am Brandenburger Tor und dem Reichstag, Richtung Bundeskanzleramt.
Quelle: Mario Graß
Quelle: Mario Graß
Quelle: Mario Graß
Quelle: Mario Graß
Die Redebeiträge auf der Bühne vor dem Kanzleramt beschäftigten sich schwerpunktmäßig mit den Themen Tierfabriken, TTIP und Gentechnik, wobei insbesondere die Wut auf das geplante Freihandelsabkommen TTIP die Protestveranstaltung bestimmte. Zahlreiche Demonstranten brachten ihre Befürchtungen, dass das geplante Vertragswerk den Weg für Gentechnik und Hormon-Fleisch ebnen und Lebensmittelstandards senken könnte, zum Ausdruck. “Die Interessen von Großkonzernen zählen mehr als die Interessen von Mensch und Umwelt“, brachte es Hubert Weiger, Vorsitzender des BUND, auf den Punkt.
Auch hinsichtlich der unter Verbrauchern immer mehr geschätzten Regionalität von Lebensmitteln, könnte das geplante Handelsabkommen unangenehme Veränderungen bringen. Gerade kürzlich räumte Bundesagrarminister Christian Schmidt (CSU), wohl eher versehentlich, ein: “Wenn wir die Chancen eines freien Handels mit dem riesigen amerikanischen Markt nutzen wollen, können wir nicht mehr jede Wurst und jeden Käse als Spezialität schützen.“ Die ohnehin schon jetzt undurchsichtigen und auch oftmals in die Irre führenden Herkunftsbezeichnungen von Lebensmitteln, beispielsweise stammt der überwiegende Anteil des für den “Schwarzwälder Schinken“ genutzten Fleisches keineswegs aus dem Schwarzwald, könnte in Zukunft vollständig ad absurdum geführt werden.
Hubert Weiger (BUND)
Quelle: Mario Graß
Bezüglich der Haltung von Nutztieren in riesigen Fabriken, in denen Lebewesen wie Gegenstände produziert und behandelt werden, äußerte sich der Bundesgeschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AdL) Georg Janßen empört: “Massentierhaltung verursacht großes Leid für die Tiere und Höfesterben.“ BUND-Vorsitzender Hubert Weiger, ermutigte die Anwesenden, indem er auf die Erfolge der vergangenen Monate und Jahre aufmerksam machte. “Dank bundesweit rund 250 Bürgerinitiativen wurden mehr als 100 geplante Riesen-Ställe nicht gebaut. Endlich werden artgerechte Ställe stärker gefördert und Agrarminister Schmidt hat angekündigt, gegen den überhöhten Antibiotika-Einsatz in der Tierhaltung vorzugehen.“
Georg Janßen (AdL)
Quelle: Mario Graß
Einigkeit herrschte unter den Teilnehmern darüber, dass die bisherige Agrarpolitik einer dringenden Korrektur bedarf. “Wir brauchen eine Agrarpolitik für Bauernhöfe statt für die Agrarindustrie“, fasst Georg Janßen die Situation zusammen. Um dieses Ziel zu erreichen und den entsprechenden Druck auf die Entscheidungsträger aufzubauen, ist ein Schulterschluss von Nahrungsmittelherstellern, die mit den natürlichen Ressourcen verantwortungsvoll umgehen und ihre Tiere respektvoll behandeln und den Verbrauchern, die zunehmend deutlich machen, dass sie regionale Produkte, die unter transparenten und ethisch annehmbaren Bedingungen produziert werden, bevorzugen, dringend geboten.
Quelle: Mario Graß
Bei der Demonstration am vergangenen Samstag ist genau dieser Schulterschluss erfolgt. 50.000 Menschen haben ein starkes Signal gesendet, doch entscheidend ist, dass die vorgebrachten Forderungen nicht verklingen. Dazu bedarf es verantwortungsbewusster Bauern, kritischer Verbraucher und wohl auch Menschen, die ihre Interessen ähnlich entschlossen verfolgen wie Otto Schöneweis. Es geht um nicht weniger als unser aller Lebensgrundlage.
Für den Artikel ist der Verfasser verantwortlich, dem auch das Urheberrecht obliegt. Redaktionelle Inhalte von GDN können auf anderen Webseiten zitiert werden, wenn das Zitat maximal 5% des Gesamt-Textes ausmacht, als solches gekennzeichnet ist und die Quelle benannt (verlinkt) wird.